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„Damit wir nicht verrückt werden“

In dem brutal zerstörten Ahr-Dörfchen Marienthal kamen von den rund 100 Einwohnern vier Menschen in den Fluten um. Ein sehr einfaches, privat organisiertes Verpflegungszelt ein Stück unterhalb der Klosterruine bildet zurzeit einen Treffpunkt, an dem die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner sich während der Aufräumarbeiten auf einen Kaffee oder ein Mittagsgericht treffen. Er sorgt für etwas Wärme und Gemeinschaft in der Trümmerlandschaft.

Gleich kommen die ersten Kaffeedurstigen. Die Dorfgemeinschaft und ihre Helfer treffen sich an diesen Tischen. Ein Ort zum Austausch und zum Essen.

Für viele ist im Augenblick die Frage am dringlichsten, ob ihr Haus abgerissen werden muss oder nicht – und ob ihre Versicherungen für die Schäden ausreichen.

Das Krisenmanagement des Landes und das THW werden hier als untätig oder sogar störend hart kritisiert. Man versteht nicht, nach welchen Prioritäten und Regeln sie arbeiten oder eben nicht arbeiten: So habe eine von der örtlichen Feuerwehr errichtete, hoch willkommene Duschanlage abgebaut werden müssen, als Ersatz habe das THW Duschcontainer aufgestellt, die aber nicht funktionierten, wird mir müde berichtet. Es fehlt sogar die Kraft, sich darüber so richtig aufzuregen. Zu viel Irrwitz auf allen Ebenen macht müde.

Die Polizei und vor allem die jungen, freiwilligen Helferinnen und Helfer, die inzwischen in geringerer Zahl anreisen, werden dagegen als unkompliziert zupackend gelobt. „Hätte ich den Jungen nicht zugetraut“, sagt ein Mann, der heute zum Kaffeekochen eingeteilt ist. „Und ich weiß auch nicht, ob ich selber losgefahren wäre, um woanders in so einer Situation zu helfen. Jetzt würde ich es tun.“ Jetzt wisse er, dass sonst nicht viel Hilfe zu erwarten sei.

Und aus dem NABU wolle er sofort austreten, gelobt ein anderer, der auf einen Kaffee vorbeikommt. Der Naturschutzverband hatte sich im Sinne der Lebensräume der Fische dagegen gewehrt, dass die Ahr hier ausgebaggert wird, um möglichst schnell die Straße wieder zu reparieren und einen erneuten Stau des Treibguts zu verhindern. Angesichts der völlig verdreckten und mit Schadstoffen aller Art belasteten Brühe, die die Ahr zurzeit ist, gibt es dafür hier kaum Verständnis. Welcher Fisch werde sich denn wohl in naher Zukunft hierhin verirren?

Viele Menschen konnten hier im Ort nur das nackte Leben retten – ihnen hätte eine frühere Vorwarnung zumindest die Chance gelassen, in die nur ein paar Schritte entfernten Weinberge zu fliehen oder einige Unterlagen und Erinnerungsstücke zu retten, sagen sie.  Sie retteten sich mit knapper Not auf die Dächer und besitzen nichts mehr.

„Wir fangen hier alle bei Null wieder an“, erzählt eine zupackend wirkende Mittfünfzigerin mit Pferdeschwanz, die vorbeikommt und schnell nachsehen will, wann sie mit ihrem Dienst hier im Zelt in dieser Woche dran ist. Sie hat keine Lust, ein ausführliches Interview zu geben, aber sie erzählt, dass ihr so gut wie nichts mehr wichtig ist, was früher eine große Rolle in ihrem Leben spielte – darunter ein adrettes Aussehen, Schminke, schöne Kleidung, eine moderne Frisur.

Wenn Wasser, Strom, Telefon und sogar ein gemütliches Zuhause fehlen und der Heimatort in Trümmern liegt, zählen über Nacht ganz andere Dinge. Trocken, ruhig und bequem schlafen wäre schön, aber zurzeit verbringen sie und ihre Familie die Nächte auf provisorischen Nachtlagern in ihrem feuchten Haus. Sie freut sich mit einer Verwandten, die vorbeikommt und freudestrahlend erzählt, dass sie gleich losfährt, um ein neues Bett zu kaufen.

Man spricht beim Kaffee darüber, dass nicht nur ihre Häuser und Wohnungen, sondern auch ihre Psyche schweren Schaden genommen hat. Ein Nachbar hat all die Zerstörung und das Leid bereits nicht mehr ausgehalten und Selbstmord begangen.

„Wir werden über all das reden müssen, damit wir nicht verrückt werden“, sagt ein wie benommen wirkender, kettenrauchender Bewohner zwischen ein paar Zügen an der x-ten Zigarette des Morgens. Seine Wohnung ist inzwischen leer, Helfer haben sie ausgeräumt. Er hat nur bei anderen Entrümpelungen im Dorf geholfen. Als seine Wohnung ausgeräumt wurde, konnte er das nicht mitansehen und ging weg.

Die Nachbarin nickt. Aber jetzt sei noch zu viel zu tun, um sich auf die Trauer einzulassen, meint sie und steht wieder auf.

Völlig zerstörtes Haus an der Bundesstraße 267.

Carmen Molitor

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