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Letzter Halt: Kreuzberg/Ahr

Kreuzberg hat nach der Flut – neben der letzten bewohnten Höhenburg weit und breit – eine zweite rare Sehenswürdigkeit bekommen: die einzige Regionalbahn, die zurzeit im Ahrtal zu finden ist. Weil die Schienen in vielen Streckenabschnitten unterspült, verbogen oder gerissen sind, kommt sie weder vor noch zurück. Ein Rundgang durch den Ort neun Wochen nach der Flut.

Dauerhaft auf dem Abstellgleis: Das ist der einzige Zug, der noch im Ahrtal steht . Weil die Schienen zerstört sind, kann er weder vor noch zurück.

Als ich an diesem regnerischen Mittwoch durch Kreuzberg an der Ahr gehe, kann ich mir gut vorstellen, wie der Herbst und Winter in den Flutgebieten werden wird. Es ist kein schöner Gedanke.

Nach neun Wochen Tabula rasa stehen die meisten beschädigten Häuser leer und verlassen da, der Außenputz ist abgeschlagen, überall gähnen mich die zum Trocknen der Mauern weit geöffneten Fenster und Türen an. Sie gestatten mir Einblicke in entkernte, düstere Räume, die nichts Privates, Individuelles mehr haben. In Häuser, die sich von einem Zuhause zu einem kalten Rohbau zurückentwickelt haben. Vieles davon, was sie einst gemütlich machte, stapelt sich jetzt kaputt und verschmutzt in den immer größer werdenden Haufen einer provisorischen Übergangsmüllkippe am Ortseingang. Früher habe ich, wenn ich aus Richtung Köln in die Eifel wollte und mit dem Auto aus dem oberhalb des Ortes liegenden Tunnel herausfuhr, stets unbewusst nach rechts in Richtung der markanten Burg Kreuzberg geschaut, der letzten bewohnten Höhenburg im Ahrtal. Jetzt fängt immer dieser enorme Schuttabladeplatz beim Vorüberfahren meinen ungläubigen Blick auf.  

Überdimensional große LKW, Greifer, Kanalreinigungsfahrzeuge und Traktoren donnern unablässig durch den Ort. Ein Bagger fährt mitten im Sahrbach hin und her, kratzt mit der Schaufel im Bett des kleinen Ahrzuflusses und befestigt mit den herausgefischten Steinblöcken die Uferseiten. In der Münstereifeler Straße hebt ein Kanalreiniger entschuldigend die Hand, als ein surrender, massiver Schlauch, den er auf die Straße gelegt hatte, unvermittelt in hohem Bogen einen Pflasterstein in meine Nähe spuckt. Gleich um die Ecke reinigt und entleert ein Trupp die mobilen Toilettenhäuschen.

Geräumt, entkernt und vom nassem Putz befreit – Haus in Kreuzberg.

Da, wo einst der Campingplatz nahe der Bundesstraße war, ist schon alles sauber planiert – und leblos. Auf der alten Bahnbrücke, vor der sich direkt nach der Flut Campingwagen, Autos, Bäume und Treibgut aller Art dramatisch verkeilt hatten, liegen keine Schienen mehr, nur Schotter. Seit einer kleinen Gedenkfeier ist hier eine lange Linie von roten Friedhofskerzen aufgereiht.

Am Kreisel stehen heute zwei Bedienstete der Verbandsgemeindeverwaltung Altenahr in einem offenen Zelt, in dem man an zwei Stehtischen in behelfsmäßigen Wahlkabinen die Stimme für die Bundestagswahl abgeben oder Wahlunterlagen für die Briefwahl abholen kann. Es hat wie aus Eimern geschüttet und Andrang hat in den drei Stunden, in denen sie hier stehen, nicht geherrscht. Eine Handvoll Leute waren da, sagen sie. Vor dem nächsten Schauer wollen sie das Zelt abbauen und mit ihrem kleinen „Wahlbus“ weiterfahren.

Damit die Bundestagswahl 2021 in der Verbandsgemeinde Altenahr ordnungsgemäß durchgeführt werden kann, sind Wahlbusse in den Gemeinden unterwegs. Hier kann man direkt in Stehtisch-Wahlkabinen die Stimme abgeben oder die Briefwahlunterlagen abholen.

Im Ort dominiert bei Sonnenschein und Hitze oft der von den großen Fahrzeugen aufgewirbelte Staub, aber heute ist es eher Matsch: Matsch auf den kaputtgefahrenen Straßen, Matsch an den Häusern, Matsch auf den Scheiben, an den Schuhen, den Hosenbeinen und den Autos. Wenn man nicht grade in die romantisch von Nebelschwaden durchzogenen Wälder an den Hängen schaut, sind die bestimmenden Farben tristes Grau und Schlammbraun.

Kreuzberg wirkt in machen Ecken so unnatürlich still und öd wie eine Geisterstadt. Was es heißen würde, wenn die Leute nicht mehr in ihre Häuser zurückkehrten, lässt sich in dieser Zwischenzeit von Zerstörung und Wiederaufbau erahnen. Immerhin ein kleiner Farbtupfer ist an der Ahrbrücke neu entstanden, wo in einem Beet das Wort „Danke“ eingepflanzt wurde, geschrieben mit bunten Blumen, als Hommage an die Helferinnen und Helfer.

Ich kann mich erinnern, wie ich am 23. Juli bei meiner Fahrt entlang der Ahr oberhalb des Ortes 30, 40 von diesen jungen Leuten mit Schaufeln erschöpft, verdreckt, stumm und sichtbar schockiert von den Bildern der Zerstörung auf ihre Shuttlebusse warten sah, die sie zurück zu ihren PKW brachten. Zum Glück kamen viele weitere nach ihnen, um das Chaos zu bewältigen.

Blick in das zerstörte Stellwerkhaus. Es wird abgebaut.

Vom Bahnhof, ebenfalls ein Lost Place ohne Ton und Bewegung, leuchtet ein auffälliger Farbklecks herüber: Eine rote Regionalbahn, die hier seit neun Wochen nutzlos herumsteht, denn seit der Flut fehlen in beide Richtungen schlicht die Gleise und Schienen, um sie hier wegzubewegen.

Sie sieht von außen nicht besonders zerstört aus, aber nach dem, was ein Bahnsprecher mir schreibt, ist der Eindruck falsch: Elektrik, Bremsanlage, Motoren, Fußböden und Sitze seien durch die Flut stark beschädigt. Ob es sich lohnt, die Bahn zu reparieren, wisse man noch nicht. Auch nicht, ob man sie in Einzelteilen mit Schwertransportern wegschafft. „Ein Auseinanderbauen des Fahrzeugs für den Abtransport auf der Straße erfordert eine – wenn auch einfachere – Werkstattinfrastruktur, die in Kreuzberg in absehbarer Zeit nicht geschaffen werden kann“, schreibt der Bahnsprecher. Das alte Stellwerk werde wegen der Flutschäden abgebaut und beim Wiederaufbau der Strecke mit moderner Stellwerkstechnik ausgerüstet.

Der einzige Zug, der noch im Ahrtal steht, bleibt also erstmal hier. Ob man das auch von jedem Anwohner und jeder Anwohnerin sagen kann, muss sich noch herausstellen.

Wunsch für die Zukunft von Kreuzberg und dem Ahrtal.

Carmen Molitor

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