Die politische und rechtliche Aufarbeitung der Flut kommt in Gang, ein Untersuchungsausschuss und eine Enquetekommission haben im Mainzer Landtag die Arbeit aufgenommen. Der U-Ausschuss machte sich jetzt, begleitet von einem Sachverständigen, auf den Weg ins Ahrtal. Eine „Sitzung“ im Gehen und Stehen.
Wer den Beruf des Geologen ergreift, hat sicher so einige Vorstellungen, wie sein Alltag einmal aussehen wird. Das ging bestimmt auch Georg Wieber so. Dr. Wieber, Jahrgang 1957, hat Geologie und Wasserwirtschaft studiert und ist heute Experte im Landesamt für Geologie und Bergbau Rheinland-Pfalz. Er wirkt nicht wie jemand, der sich während seines Studiums gewünscht oder auch nur ausgemalt hat, dass er mal bei einer Erläuterung über Prallhänge und Trockentäler in fünf Fernsehkameras und ein Dutzend Mikrophone sprechen wird, die ihm vor die Nase oder mit langen Angeln über seinen Kopf gehalten werden. Oder, dass ihm ein Tross von rund 50 Menschen – Landespolitikern, Reporterinnen und Reporten von Zeitungen, Radiostationen und Fernsehsendern – einen Tag lang auf Schritt und Tritt folgen und an seinen Lippen hängen würde, wenn er über die Gesteinsausprägung im Devon, den Ahrsattel oder Zeugenberge spricht.
Wieber, der dem Schauspieler Manfred Krug ähnlich sieht, erlebt das alles heute bei einer ungewöhnlichen Exkursion im Ahrtal. Seine Rolle ist es, den Untersuchungsausschuss 18/1 „Flutkatastrophe“ des rheinland-pfälzischen Landtags als Sachverständiger darüber aufzuklären, „welchen Einfluss die topografische und geologische Beschaffenheit des Ahrtals auf die Flutkatastrophe am 14./15. Juli 2021 hatte“, wie in der Einladung steht.
Die „Sitzung“ findet im Gehen und Stehen statt: Der Ausschuss nimmt vor Ort an sieben Stellen im Ahrtal Beweise in Augenschein. Beweisaufnahmen sind ein öffentlicher Teil des Untersuchungsausschusses. Deshalb folgt dem Bus mit den Ausschussmitgliedern ein Bus der Landespressekonferenz aus Mainz – und diverse Autos von Medienleuten aus der näheren Umgebung. Eine veritable Kolonne. In der Brückenstraße in Schuld, wo die Beweisaufnahme mit rund 20 Minuten Verspätung gegen 10.30 Uhr beginnt, gesellen sich auch noch interessierte Bürger hinzu. Sieben Mal fahren zwei Polizeiwagen vorab zu den Treffpunkten, um alles abzusichern. Zwei Techniker eilen der Gruppe voraus und stellen vor Trockentälern, Tunneleinfahrten oder am Ahrufer zwei Lautsprecherboxen auf, damit man Wieber später über alle Köpfe hinweg gut verstehen kann.
Sieben Mal eröffnet der Ausschussvorsitzende Martin Haller, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD in RLP, formal die Sitzung und unterbricht sie für die Weiterreise wieder. Er gibt damit auch das Zeichen für die Medien, das Feuer einzustellen – denn während der Sitzung dürfen weder Kameras noch Aufnahmegeräte benutzt und keine Fragen an die Ausschussmitglieder gestellt werden. Wie bei einem Strafverfahren soll hier alles seine Ordnung haben. Dass mit der Zeit einige Reporter ihre von Schreibblöcken notdürftig bedeckten Smartphones während der Ausführungen auffällig nahe an die Lautsprecher halten, tut dem keinen Abbruch.
Es dauert jedes Mal seine Zeit, bis alle vor Ort sind, danach wieder in die Busse und Autos steigen und sich durch das geschundene Ahrtal von Schuld über Hönningen, Altenahr, Dernau, die „Bunte Kuh“ bis nach Sinzig bewegen. Viel zu viele Leute für die engen Gassen, die matschigen Plätze, die stillen Nebentäler. Ein paar Mal schmunzelt Wieber selber über den Volksauflauf, den er verursacht; an der „Bunten Kuh“ bei Walporzheim hebt er die Hand und macht schnell mit dem Smartphone ein Bild des auf ihn zukommenden, wissbegierigen Trosses. Wenn ich das in meinem Club erzähle!
Einige Stopps wurden nicht aus Gründen einer erwähnenswerten Geologie in den Besuchsplan eingeflochten, sondern weil sie andere Aspekte der Katastrophe besonders veranschaulichen. Die Ausschussmitglieder stammen nicht aus der Gegend, insofern nutzt man die Chance, ihnen das zu zeigen, wenn sie schon einmal vor Ort sind. Weder in Dernau noch in Sinzig kann Wieber etwas aus Expertensicht beisteuern. An einem Haus in Dernau Ecke Haupt- und Brückenstraße versammelt man sich vor den Hochwassermarken: Während die Linie des letzten größeren Hochwassers 2016 nur gut einen Fußbreit vom Boden weg angemalt wurde, prangt die Wasserlinie zur Zahl „2021“ nahe der Dachrinne; schon nach fünf Monaten kann man sich das kaum mehr vorstellen. In Sinzig fragt man sich vor dem Haus der Lebenshilfe, warum hier zwölf Menschen mit Behinderung sterben mussten. Als Geologe kann Wieber beides nicht fachlich kommentieren. Während er in Dernau noch gelassen die Schulter zuckt und sagt: „Den Ort haben sie ja ausgesucht“, kommt er in Sinzig ins Schleudern. Dort sagt er mehrfach, dass in dem Haus „behinderte Kinder“ gestorben seien und die Ahr 250 Meter weit weg sei, was beides nicht stimmt. Hier starben Erwachsene und die Ahr liegt laut Google Maps 450 Meter weit entfernt.
An den übrigen fünf Orten wirkt Wieber in seinem Element – ruhig und sachlich berichtet er von den gefalteten Gesteinsschichten im Ahrtal, von wassergesättigten Böden, in denen das Wasser schlecht und bei Starkregenereignissen gar nicht versickern kann. Von der Gefahr von Erdrutschen, die beispielsweise in Schuld das hoch über der Ahr gelegene Hotel Schäfer bedrohten, das im Juli fast evakuiert werden musste und unterhalb dessen zurzeit Befestigungsarbeiten durchgeführt werden. Von einem Trockental in Hönningen, durch das sich während der Flut so viel erodierter Schutt und Schlamm aus dem Wald als Mure durch den Ort ins Tal schob, das es 70 LKW-Ladungen entsprochen hätte. „So etwas wird wiederkommen“, prophezeit der Sachverständige, „100 bis 200“ solcher Seitentäler gebe es Ahrtal. In Hönningen ist inzwischen quer durch das Trockental ein Stahlnetz gespannt, um das gröbste Geröll aufzuhalten.
Am Tunnel in Altenahr, wo die Ahr in einem großen Bogen um einen Berg fließt, lässt sich die enorme Wucht und Menge des zum Rhein stürzenden Wassers am besten vorstellen. Auch hier im Tunnel sind alte Hochwassermarken zu sehen, die im Vergleich zu dem Pegelstand im Juli nahezu lächerlich wirken. Diesmal füllte das Wasser den kompletten Tunnel, auch durch die höher gelegen kleineren Bahn- und Fahrradtunnel schossen die Wassermassen. „Das wirkte wie eine Drainage“, erklärt Wieber. Hätte es diese Abläufe in diesem Prallhang am Rand des Ortes nicht gegeben, wäre die Zerstörung durch den Rückstau des Wassers in Altenahr noch verheerender gewesen als sie eh schon war.
An der „Bunten Kuh“ bei Walporzheim ist das Ahrtal an der engsten Stelle 50 Meter breit; hier weist Wieber auf einen Steinbruch am gegenüberliegenden Ahrufer hin, dessen Reste mitsamt der Böschung weggerutscht sind. Zwei Brücken riss das Wasser an dieser Stelle mit sich.
Ausschussmitglieder fragen ihn, wie die Kommunikation mit den Gemeinden vor Ort vor der Flut gewesen sei. Waren den Verantwortlichen die Gefahren bewusst? Mehrfach erklärt Wieber an diesem Tag, dass das Landesamt für Geologie und Bergbau Rheinland-Pfalz als Fachbehörde nur aktiv wird, wenn es um Hilfe gebeten werde. „Das tun wir dann auch gerne.“ Aus seiner Sicht habe das Geschehen im Juli auch „alte Hasen“ überrascht. „Die Gefahr war nicht bewusst, da bin ich mir sicher.“ Das sie da ist, kann jeder jetzt besichtigen.