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Heppingen: das schwimmende Haus

„Unglaublich“ ist eines der Worte, die ich im Ahrtal bisher am häufigsten gehört habe. Unglaubliche Zerstörung, unglaubliche Schicksale, aber auch: unglaubliche Hilfsbereitschaft. Als ich durch das Neubaugebiet von Heppingen gehe, kommt mir das Wort wieder in den Sinn. Wer sich heute hier umsieht, kann schon jetzt kaum mehr glauben, was hier vor 14 Wochen geschah. Man muss die Geschehnisse gut dokumentieren, denn sonst wird man in ein paar Jahren viele Flutgeschichten für erfunden halten, weil die Vorstellungskraft dafür nicht reicht.

In diesem Teil von Heppingen, einem Stadtteil von Bad Neuenahr-Ahrweiler, hat die Bezeichnung „Neubaugebiet“ eine bittere doppelte Bedeutung erhalten: Hier werden erst kürzlich gebaute Häuser ein zweites Mal neu aufgebaut. Die Ahr hat alle Häuser dieser Straßenzüge beschädigt, einige komplett zerstört.

Hätte das Gebiet „Landskroner Straße Süd“ neben dem Bahndamm gar nicht als Neubaugebiet ausgewiesen werden dürfen? Die Diskussion darüber schwelt schon länger und bricht ab und zu schärfer aus. „Wir sind in das Baugebiet gelockt worden“, zitiert die Rhein-Zeitung einen Anwohner, der erst vor einem Jahr hier eingezogen ist. Er hatte sich am Montag in der Einwohnerversammlung zu Wort gemeldet, die das Land zurzeit zu Fragen des Wiederaufbaus im ganzen Ahrtal veranstaltet. Niemand habe ihm gesagt, dass er in einem Überschwemmungsgebiet baue, habe er sich beschwert. Das Gebiet sei damals nach bestem Wissen und Gewissen ausgewiesen worden, konterte der Gemeindebürgermeister: „Sie haben nicht in einem Überschwemmungsgebiet gebaut.“ Es sei durch die Flutwelle nur unerwartet dazu geworden.

In diesem im Juli völlig untergegangenen „Nicht-Überschwemmungsgebiet“ suche ich nach einem ganz bestimmten Haus – vielmehr nach dem Ort, wo es gestanden hat. Das Schicksal der Familie, die hier lebte, und das ich vor allem auf Facebook mitverfolgen konnte, hat mich besonders angerührt.

Ich gehe entlang der weißen, schnörkellosen Gebäude, die meist in moderner Leichtbauweise errichtet wurden. In vielen Einfahrten stehen Busse von professionellen Handwerksbetrieben, man hört vereinzelt Baulärm, ansonsten wirkt alles wie ausgestorben.

Zufällig ist auch der Lohnunternehmer Markus Wipperfürth heute dort, ich sehe ihn in typischer Manier – das Smartphone mit laufender Kamera voraus – auf einen Mann zugehen, der ihn freundlich begrüßt. „Mobile Werkstatt für Flutopfer im Ahrtal im Einsatz“ steht auf einem langen Fahrzeug in seiner Nähe. Vermutlich gibt es darüber heute einen Bericht in „Wippi-TV“, Wipperfürths Kanal auf Facebook, der inzwischen an die 300.000 Follower hat, die meisten davon glühende Fans. Wipperfürth ist der einflussreichste Ahr-Influenzer in den Sozialen Medien – ein parteiischer Aktivist mit Kamera, der das tägliche Sendungsbewusstsein dafür hat, für die gute Sache zu trommeln. Wenn er will, kann er damit Heerscharen von Helferinnen und Helfern dazu bewegen, ins Ahrtal zu kommen. Mich erinnert die kumpelige Art, wie er mit der Tür ins Haus fällt und die Leute interviewt, etwas an Michael Moore. Aber Journalist sei er nicht und wolle es auch nicht sein, betont Wipperfürth. Wir sind allein auf der Wilhelm-Söller-Straße. Er grüßt (unbekannterweise) freundlich herüber, und bemüht sich, dabei nicht mit der Handy-Kamera zu wackeln, die er auf sein Gegenüber gerichtet hält. Ich winke zurück.

Schlamperei rettet Leben

Vor einem entkernten Haus mit großen Löchern in den wieder unverputzten Seiten bleibe ich kurz stehen. „Ist das Ihres?“, spricht mich ein Mann um die 40 an, der in Sweatshirt und Arbeitshose gekleidet ist. „Zum Glück nicht“, antworte ich ihm. „Das ist total fertig, wird abgerissen, nix zu machen“, erklärt er mir ein bisschen leutselig. Er entpuppt sich als Fachmann, baut selbst Häuser, aber nicht Fertighäuser, wie die meisten, die hier stehen, sondern ganz massive. Ihm gehört der Rohbau mit den großen Fensteröffnungen schräg gegenüber. Zwei Wohnungen und ein Büro sollen darin entstehen. Kurz vor der Flut habe er noch Krach mit dem Fensterbauer gehabt, weil der die Fenster noch nicht geliefert hatte. In der Nacht der Katastrophe hätte diese Verzögerung aber mehreren Menschen das Leben gerettet, denn so konnten sie leicht in den Rohbau klettern und hier die Nacht verbringen. Ursprünglich wollte er selbst in das Büro einziehen. Aber, er winkt ab: „Ich will hier nicht mehr hin“. Vielleicht sind hier zu viele schlimme Geschichten passiert.

Eine davon kenne ich schon: „Da hinten können Sie eine Baulücke sehen. Da ist ein ganzes Haus weggeschwommen, bis nach Lohrsdorf an die Brücke“, berichtet er. Ja, nach eben dieser Lücke suche ich grade. Ich finde sie gleich um die Ecke in der Straße „Am alten Brunnen“.

Ein Haus schwimmt weg

Die Ahr hat das Fertighaus, das hier stand, angehoben und weggeschwemmt. Ich glaube es selbst kaum: Hier, mitten im Neubaugebiet, wo der Fluss nicht mal zu sehen ist? Ein Haus, das nicht mal in der ersten, sondern in der zweiten Reihe nach Ufer und Bahndamm stand und umrahmt von anderen Häusern war? Unglaublich, aber wahr. Ich kenne die frühen Berichte davon und es gibt auf Youtube kurze Videoschnipsel zu sehen: ein weißes Haus, das langsam in den dunklen, reißenden Fluten davonschaukelt.

Das Grundstück ist fast aufgeräumt, nur die nutzlos gewordenen Gartenzäune sind noch umfangen von Gras aus der Flut. Auf der linken Seite gibt es einen etwas verwilderten Garten mit ein paar bunten Blumen und einem Baum. Ein kleiner Steinweg ist noch da. Aber die Eingangstür, zu der er führte, nicht.

Grabkerzen stehen auf einem verlorenen Mauerrest, daneben liegt ein vertrockneter Strauß Blumen: In dem Haus, das es nicht mehr gibt, hat ein Ehepaar mit seiner erwachsenen Tochter gewohnt. Der Mann überlebte schwerstverletzt. Nach Tagen schlimmer Ungewissheit barg man die Leiche einer der beiden Frauen. Die andere blieb vermisst.

In Rotterdam gefunden

Ich folge einer öffentlichen Facebookgruppe, die speziell als Vernetzungsinstrument für die Suche nach Vermissten gegründet wurde. Dort hatten eine Freundin und eine Verwandte um Hinweise über das Schicksal der beiden Frauen gebeten. Nachdem die Tochter gefunden war, herrschte in der Gruppe lange Schweigen über den Verbleib der Mutter. Niemand konnte Informationen liefern, niemand wusste etwas. Ein Gruppenmitglied riet den Verwandten schon vor zehn Wochen, auch in einschlägigen holländischen Facebookseiten eine Anfrage zu der Vermissten zu stellen. Der Hinweis schien mir roh und merkwürdig. Niemand ging darauf ein. Anfang Oktober sprach sich in der Gruppe dann die traurige Nachricht herum, dass die vermisste Frau tot in Rotterdam gefunden worden sei.

Es ist einerseits gut, Gewissheit über das Schicksal eines geliebten Menschen zu haben. Wenn diese Gewissheit aber so furchtbar ist, kann man nur hoffen, dass es jetzt Menschen gibt, die den Trauernden fest zur Seite stehen.

Schmerzliche Lücke, wo einst eine Familie wohnte.

Auf meine Anfrage bestätigte mir das Polizeipräsidium Koblenz nur, dass man am 30. September tatsächlich eine der drei letzten Vermissten der Flutkatastrophe identifiziert habe. Bereits Ende Juli sei die Person in Rotterdam gefunden worden, schrieb mir der Leiter der Pressestelle. Diese sei das 134. identifizierte Opfer der Katastrophe im Ahrtal. Ins Detail ging er nicht.

Und wie geht es nun weiter, in dem Neubaugebiet mit dieser traurigen Geschichte? Es werde vermehrte Hochwasserauflagen geben, aber eine Baugenehmigung werde der Regelfall sein, lese ich in dem Bericht der Rhein-Zeitung von der Heppinger Einwohnerversammlung. Nur wenige Anwohner wollten das Gebiet verlassen; sie vertrauten darauf, dass sich so ein Ereignis nicht wiederholen werde.

Carmen Molitor

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